
(Könnte triggern)
Elena und Vera trafen sich wie immer am Startpunkt ihrer Wanderroute. Normalerweise freute Elena sich auf diese Touren und die Qualitätszeit mit ihrer Freundin. Schließlich war das ihr kleines Ritual, das sie auf besondere Weise miteinander verband.
Allerdings machte Elena sich in letzter Zeit mit jeder gemeinsam abgewanderten Route mehr Sorgen um Vera.
Vera war vom Typ her ganz anders als Elena. Nicht so verspielt, dafür umso ehrgeiziger und erfolgsorientiert. Sie träumte von einer großen Karriere, viel Urlaub und davon irgendwann gar nicht mehr arbeiten zu müssen, sondern sich den ganzen Tag bedienen zu lassen.
Deswegen drehten sich die Gespräche zwischen den Freundinnen ganz häufig um die Arbeit. Sogar ihre abenteuerlichen Wanderungen schienen sich von gemeinsamen Erlebnissen und Entdeckungen immer mehr in Richtung “erreichte Ziele” zu entwickeln. Was Elena anfangs noch als lustigen Wettstreit empfand, raubte ihr irgendwann immer mehr Freude am Wandern und der gemeinsamen Zeit.
Als sie diese wöchentlichen Touren vor knapp zwei Jahren begonnen hatten, ging es noch um Bewegung, um Spaß, Schönheit und vor allem um ihre Zeit als Freundinnen. Mittlerweile aber spürte Elena jedes Mal, wenn sie in den See sprang, Vera’s vergleichenden Blick auf ihrem Körper ruhen. Sie bemerkte die immer schmaler werdenden Arme und Beine, die ihre Freundin eine ganze Zeit lang unter großen Klamotten verborgen hatte und jetzt im Sommer regelrecht zur Schau stellte. Während sich die beiden anfangs noch zu gleichen Teilen mit Energie in Form von leckeren Broten, Obst, Gemüse oder kleinen Wandermenüs versorgten, knabberte Vera mittlerweile pro Tagestour nur noch an ein paar Nüsschen. Wenn es gut lief an einem Ei oder einer Banane.
Da war dieser ständige Vergleich, der permanente Druck, der wie eine Wolke über Vera hing und sich nun auch auf ihre Freundschaft zu Elena auswirkte.
Elena verstand das alles nicht so recht. Sie hatte Vera schon immer als hübsch in Erinnerung, auch ohne Sixpack. Die permanenten Vergleiche nervten sie ein bisschen, zumal sie ja gar nicht mit Vera konkurrieren wollte. Alles was Elena wollte, war eine schöne Zeit zu zweit und Spaß beim Wandern. Also nahm sie sich fest vor, Vera auf ihre sorgenbeladenen Gedanken anzusprechen.
Nachdem die beiden sich eingelaufen hatten und der erste Anstieg überwunden war, ließen sie sich kurz zu einer Rast nieder.
“Willst du was von meinen Gemüsepatties?”, fragte Elena und blickte ihre Freundin fröhlich und auffordernd an.
“Nein, ich bin noch satt vom Frühstück.”
Elena schüttelte innerlich traurig den Kopf. Sie grübelte, machte den Mund auf, stockte dann aber und bekam dann doch kein einziges Wort heraus. Sie hatte so viele Gedanken, aber sie in Worte zu fassen, ohne ihrer Freundin zu nahe zu treten, fiel ihr dann doch schwerer als gedacht.
“Ist irgendwas?”, fragte Vera argwöhnisch. Die seltsamen, fischähnlichen Mund-auf-Mund-zu-Bewegungen ihrer Freundin waren ihr nämlich keinesfalls entgangen.
“Naja, ich frage mich manchmal, warum du so viel weniger Energie brauchst als ich.”
“Tja, ich bin halt besser – also mein Stoffwechsel.”, kicherte Vera.
“Weißt du, ich finde, du siehst zur Zeit irgendwie dünner aus. Machst du eine Diät? Also nimmst du gerade ab, oder so?”
Vera machte große Augen und schrie dann beinahe: “Endlich jemand, der es sieht! Die Kollegen haben mich auch gefragt. Aber der, der es sehen soll, der sieht es nicht!!”
Elena wurde das Gespräch irgendwie unangenehm – eigentlich hatte sie sich gewünscht, dass ihr Sorgenberg kleiner werden würde, stattdessen wuchs er jetzt aber an.
“Wer soll es denn sehen?”, fragte Elena vorsichtig.
“Na, mein Chef! Es ist alles zu viel! Er muss doch sehen, dass mir das nicht gut tut, wenn es schon auf meinen Körper umschlägt. Das ist der Stress, sag ich dir.”
“Hast du ihm das gesagt? Dass es zu viel ist?”
“Ja.”
“Und?”
“Ich soll mich besser organisieren.”
“Und wechseln?”
“Echt? Einen Jobwechsel? Findest du, dass ich das machen sollte?”
Elena blickte ihrer Freundin tief in die Augen, aber sie bekam nichts zurück. Keine Resonanz, kein Gefühl, einfach nichts. Als würde sie mit einer leeren Hülle sprechen. Das Leben im Inneren ihrer Freundin war verschwunden – da war nur noch diese immer weiter um sich greifende Leere übrig.
“Ich weiß nicht, ob ein Wechsel gut für dich ist, aber ich weiß, dass du entweder zum Arzt gehen oder wieder mehr essen solltest. Ich mache mir Sorgen um dich.”, sagte Elena mit zitternder Stimme.
Vera knabberte nervös an ihren Fingernägeln und sagte: “So schlimm ist es jetzt auch wieder nicht.”
Aber Elena ließ sich nicht ablenken. Bestimmt und überzeugt, antwortete sie ihr: “Ich werde nachfragen. Ich werde fragen, ob du beim Arzt warst. Ich werde fragen, ob sich deine Balance im Job verbessert hat. Und ab sofort beißt du gefälligst mindestens einmal in mein Brot, wenn du mit mir wandern gehst – und das steigern wir dann!”
Tränen standen in Elena’s Augen, während sie ihre Freundin anblickte, die nur noch ein fahler Schatten ihrer Selbst zu sein schien. Dann stand Vera plötzlich auf, zog Elena unerwartet zu sich nach oben, nahm sie in den Arm und drückte sie so fest an sich, dass Elena kaum Luft bekam.
“Du bist wahrscheinlich die beste Freundin, die ich jemals hatte! Aber weißt du, es ist alles gut. Du musst nicht so aufgewühlt sein. Es ist wirklich nicht so schlimm. Außerdem habe ich ja kein Problem oder so. Mein Chef hat eines. Mit mir ist alles okay. Der Boss muss seinen Shit kapieren. Und wenn du es gesehen hast, dann wird er das auch bald. Du wirst schon sehen, dann ändert er sich und dann wird alles einfacher. Ernsthaft, mach dir keine Sorgen.”
Vera ließ Elena los und spurtete davon. Elena aber weinte bitterlich und schimpfte auf die Selbstoptimierung, den Leistungsdruck, Süchte und auf alles, was ihr sonst noch einfiel. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend trottete sie Vera hinterher und nahm sich fest vor, mit ihrer Mentorin über diese Situation zu sprechen und nach Hilfe zu fragen.
Film: “Wunderschön” – Filmempfehlung
Vera und Elena, wie in der Kurzgeschichte – Julie, Vicky und Sonja, wie im Film – oder geht es da nicht doch auch irgendwie um uns alle?
Heute zum Weltfrauentag empfehle ich, unbeauftragt und unbezahlt, dafür aus Überzeugung diesen Film. Es sei dazu gesagt, dass er triggern und die sensibleren Menschen unter uns durchaus aufwühlen könnte. Deswegen: Gib gut auf dich selber acht.
Im Film “Wunderschön” geht es um verschiedene Frauen, die auf die ein oder andere Art mit ihrem Selbstbild zu kämpfen haben. Diese Selbstzweifel und Sorgen wirken sich letztlich auch auf ihr Umfeld, ihre Partner, ihre Familien und ihre Jobs aus. Der Film ist auf sehr vielen Ebenen emotional und transportiert gefühlt zig verschiedene Messages, die sich an jede Altersklasse richten und unter der großen Frage: “Fühlst du dich in und mit dir selbst wohl?”, vereint werden.
Es handelt sich dabei nicht um einen Frauenfilm, sondern geht alle Geschlechter gleichermaßen an.
Was mir besonders aufgefallen ist:
Ich werde hier nicht anfangen, Aussagen vorwegzunehmen. Schließlich will ich nicht spoilern. Ich selbst habe aber einen Aspekt, der neben der Kernbotschaft vielleicht nicht jedem auffällt, als besonders wichtig empfunden:
Es ist der Gedanke, dass wir alle keine Inseln sind. Wir Menschen sind auf die ein oder andere Art miteinander verknüpft, sei es sozial, familiär oder im Arbeitskontext. Mir ist aufgefallen, dass die Charaktere selbst wieder zufriedener werden und sich wieder mehr als “gesehen” wahrnehmen, wenn sie ihre eigenen Augen wieder aufmachen. Wenn sie weg von sich selbst und wieder hin zu ihrem Gegenüber blicken, statt nur und permanent zu erwarten und einzufordern, selbst gesehen zu werden.
Der Blick hin zu unserem Gegenüber lässt zu, dass wir auch selbst wieder einen Blick ergattern können und von einem Augenpaar mehr gesehen werden.
Mit diesem Gedanken lasse ich dich nun allein und wünsche dir noch einen schönen Frauentag!